2003-08-20

Heinrich Böll und die Helsinki-Gruppen


Mein Freund Ivan Hlinka - ich nenne ihn so, weil sein Name zufälligerweise dasselbe bedeutet wie der des slovakischen Nationalistenführers, eigentlich ist er Finne und Sprachforscher wie ich - hat sich mehrere Male darüber verwundert, woher ich die Einstellung habe, die er "falsch links" nennt - d.h. ein prinzipielles Bekenntnis zu linken Idealen, das aber gleich dadurch wieder aufgehoben wird, dass ich mich mit den real existierenden linken Politikern und Gruppierungen gar nicht identifizieren will: die etablierten Parteien sind Verräter, die ausserparlamentarische linke Opposition besteht aus Schwärmern und New-Age-Freaks, und dazwischen stehe nur ich in meiner kaiserlich-königlichen Hoheit, der ich durch eine mystische Verklärung in den Besitz der einzig-alleinigen Wahrheit gekommen bin, wenigstens meiner eigenen Meinung nach. Mein Freund glaubte, die Urquelle dieser Arroganz gefunden zu haben, als er zum erstenmal in den Essays von George Orwell blätterte: der Kerl schreibt ja wie Panu! Er hatte in dem Sinne recht, dass ich wirklich einen grossen Teil meiner politischen Ansichten und Vorstellungen von Orwell gelernt habe: streng antikommunistisch und antisozialistisch erzogen, vertrat ich meines eigenen Erachtens eine modernisierte Fassung des bourgeoisen Liberalismus meines Grossvaters und wurde peinlich berührt, als mir irgendein neonazistischer Unternehmersohn am Gymnasium nahelegte, ich sei links. Wegen meines Hintergrunds rührte ich auch nicht die Bücher bekannter linker Theoretiker oder Politiker an, aber Orwell war was anderes, ein Schriftsteller, von dem es hiess, dass er ein "desillusionierter Kommunist" gewesen sei (was freilich nicht wahr war: er war Sozialdemokrat in einer Zeit, als sich auch brave Sozis noch revolutionäre Rhetorik leisten konnten).

Mein Freund aber wusste nicht, dass mein "linkes" Denken auch von einem anderen literarischen Einfluss hervorgebracht wurde, und zwar von Heinrich Böll, der neben Hermann Hesse einer der ersten deutschen Schriftsteller ist, die ich im Original habe lesen können. (Auch Thomas Mann gehört dazu, merkwürdigerweise: ich habe die Buddenbrooks auf deutsch gelesen, als ich noch keine achtzehn Jahre alt war.) Heute sah ich Vermintes Gelände, einen Sammelband von alten Böll-Essays, in der Zimmerecke liegen, und auf dem Klo habe ich dann ein paar Texte da wieder durchgelesen, zum erstenmal seit vielen Jahren, glaube ich. In seiner eher ironischen Rezension eines Prachtbands, den irgendein Ghostwriter über das Leben und die Ansichten des berüchtigten Grossverlegers Axel Springer bemerkte Böll nebenbei, dass die europäische Sicherheitskonferenz, obwohl "vielgelästert", doch Anlass zur Gründung von "Helsinki-Gruppen" in den sozialistischen Staaten gehabt hatte, "und auch die Charta 77" - eine gemeinsame Stellungnahme oder Programmerklärung der tschechoslovakischen Dissidenten - "wäre undenkbar gewesen ohne Helsinki". In Weissrussland ist immer noch eine Helsinki-Gruppe aktiv, da sich die Situation der Menschenrechte in dieser unglücklichen Republik seit dem Zerfall der Sowjetunion kaum verbessert haben.

Mir ging es schon immer mächtig auf die Nerven, wie wenig sich die Finnen überhaupt darum kümmern und daran interessieren, dass der Name unserer Hauptstadt in den ex-sowjetischen Staaten zu einem Symbol der Justiz und der Gerechtigkeit geworden ist. Wäre es nicht ein Anlass zu gesundem, konstruktiven Nationalstolz, als Gegenpol gegen die Monopolisierung des Begriffes Patriotismus durch glatzgeschorene Halbstarke und Kriminelle? Als wir noch als eine Art Zusatzmitglied zum Ostblock gehörten, war es natürlich, dass das offizielle Finnland diese Ehre etwas peinlich fand. Jetzt gibt es aber keine Ursache mehr, warum wir uns nicht mit dieser Fama nicht identifizieren sollten. Die Stadt Helsinki hat zwar Vasil Bykaû, den weissrussischen Nationalschriftsteller, für ein Jahr untergebracht - ich glaube, das ist schon ein paar Jährchen her, und ich weiss nicht, ob dieses Programm mit europäischen Asylstädten für berühmte und verfolgte Schriftsteller noch weitergeht. Sollten wir nicht etwas mehr unternehmen, um den Helsinki-Gruppen in den exsowjetischen Ländern zu helfen?

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