2003-06-12

Die Kernkraftfanatiker


Also was mir schon immer mächtig auf den Wecker gehen, das sind die verflixten Kernkraftfanatiker. Wie bekannt, gehört Finnland zu den wenigen westlichen Ländern, wo Kernkraft immer noch ernstgenommen und als High-Tech empfunden wird: obwohl sie in anderen Ländern in viel höherem Umfang Benutzung findet, scheint es mir allgemein anerkannt, dass sie ganz einfach nicht kostengünstig ist. Der unabwendbare Strukturwandel des Wirtschaftslebens wird der Kernkraft wohl den Garaus machen, jetzt wird nur noch der Abwehrkampf geführt, um zu gewährleisten, dass der Zerfall nach möglichst geordneten Bahnen laufe.

Nicht so in Finnland. Hier wurde der Prinzipbeschluss vom Bau eines neuen Reaktors im letzten Frühjahr gefasst: es bedeutet zwar noch nicht, dass unser Land unbedingt mit einem fünften KKW wird leben müssen, aber es ist zuzugeben, dass der Kernkraftausstieg in Finnland vorerst kein seriöses Thema ist. Das beruht vor allem auf der Papierindustrie, auf dem "Holzfuss" der finnischen Wirtschaft. Um diesen Fuss im Gange zu halten, bedarf es einer Unmenge Energie; und dass der Übergang zu einer dienstleistungsorientierteren und auch hochtechnologischen Wirtschaftsstruktur längst fällig ist, wird ganz einfach nicht wahrgenommen. Die Kernkraftlobby ist schon aus objektiven Gründen sehr stark; aber ob es wirklich ein rein wirtschaftlich gesunder Beschluss war, ein fünftes KKW zu bestellen, nein, davon bin ich kaum überzeugt.

Ich arbeite selbst als Übersetzer und sehe es in meiner unmittelbaren Umgebung, dass der Holzfuss nicht mehr der Tragfuss sein muss. Jetzt entwickeln sich neue Sektoren: sowie Dienstleistungen wie auch High-Tech. Und nicht zuletzt Sprachentechnologie. Bei uns kommt der Übersetzungsspeicher von Trados gross zum Einsatz, und die Erfahrungen finden durchaus Auswertung in unserer eigenen Produktentwicklung: seit unser Unternehmen eine Sprachentechnologiefirma eingekauft und einverleibt hat, kann es sehr gut sein, dass wir aus Finnland einen Vorgänger und Grossexporteur der Sprachentechnologie machen können.

Die lautstärkesten Befürworter der Kernenergie aber sind halbgebildete Ingenieure, deren Sprachkenntnisse sich auf das Fachsimpeln auf Englisch beschränken. Diese Leute bilden sich selbst nur zu gerne ein, jede andere Sprache sei schon im Begriff, vom Englischen verdrängt zu werden. Deshalb können sie sich auch nicht vorstellen, was in der Sprachentechnologie in Finnland geschieht - sie wissen wohl nicht, was Sprachentechnologie ist. Vielleicht ist ihnen so eine Zukunft gar nicht geheuer, in der die High-Tech, statt die kleinen Nationalsprachen zu verdrängen, ihnen unter die Arme läuft.

Ein Internet-Bekannter von mir zitierte vor einigen Monaten in seinem eigenen Net-Tagebuch die Aussage von einem informationstechnologischen Guru, die Computerfreaks - die nerds, wie es so schön heisst (bei uns in Finnland hat sich das Wort inzwischen so eingebürgert, dass es in der völlig finnisierten Form nörtti geläufig ist) - seien ganz einfach schlechte Technologie. Der Computer wurde zunächst nur für die Freaks, die einschlägigen Rechnerfanatiker, entworfen. Allmählich aber wurde es klar, dass Otto Normalverbraucher und Lieschen Müller gar keine Kurse in Fachenglisch und Informationstechnologie machen wollen, um den Rechner als Alltagselektronik aufzufassen und zu verwenden. Sie ziehen eine übersichtliche Benutzeroberfläche vor, mit Dialog auf gut deutsch. Die Firma, die auf dem Markt überleben will, muss ihnen so eine Oberfläche ganz einfach erbieten können, sonst geht sie gleich pleite. Die Firma kann sich deshalb nicht mehr den halbgebildeten Ingenieur leisten, der den Bedarf nach benutzerfreundlichem Schnittstellendesign nicht wahrnimmt. Dieser Ingenieur ist wirklich selbst so etwas wie eine erste Programmfassung, die bald von neuen und neuen Aktualisierungen überholt werden soll.

Und dasselbe trifft ebenfalls auf die Kernkraftfanatiker und den Holzfuss zu. Es ist durchaus denkbar, dass die Kernkraftgegner - sollte Finnland wirklich auf der Welt als letzte Kernkraft-Hochburg im zivilisierten Europa berühmt/berüchtigt werden - dem finnischen Papier einen Symbolwert beimessen und zum Boykott dagegen aufrufen werden. Finnland ist ein kleines Land und lässt sich leicht boykottieren: die Abwesenheit der finnischen Produkte wird sich niemand merken. (Schwieriger wäre es, den Boykott französischer Waren zu verhängen.) Auf längerer Sicht müssen wir folglich unsere wirtschaftliche Struktur so verändern, dass wir nicht mehr so KKW-abhängig seien. Diese Atomsucht ist ganz einfach nicht tragbar - schon aus wirtschaftlichen Gründen. So ein Boykott ist eben auch eine der Marktkräfte und muss im Kalkül mit berücksichtigt werden. Ich glaube, die höchste Chefetage tut es schon. Die mittlere Etage dagegen findet es ihrer unwürdig, Rücksicht auf den grünen Strassenmob zu nehmen. Aber letztgültig wird die mittlere Etage auch gar nicht gefragt.

Ich glaube, die höchste Etage der Wirtschaftsbonzen weiss schon Bescheid und gibt zu, dass es nicht so weitergehen kann. Das Problem sind eben die halbgebildeten Ingenieure, die die frühere Propaganda der Bonzen über die absolute Notwendigkeit der KKWs für bare Münze genommen haben. Wir lassen uns allzuoft weismachen, das Problem sei der Konservatismus der Etablierten in den Wirtschaftskreisen. Das ist natürlich reiner Stuss. Der erfolgreiche Geschäftsmann macht eben Geschäfte mit Konservatismus wie mit jeder anderen Ware, aber nur solange, wie es lukrativ ist. Das bedeutet keineswegs, dass er nicht schon insgeheim dabei wäre, den Notausstieg vorzubereiten. Für die Gläubigen der Atomkraftreligion (die keineswegs in der höchsten Etage sitzen - dort sitzen diejenigen, für die Geld die einzige Religion ist) ist Atomkraft eben keine pragmatische Frage, sondern eine Ideologie. Ihre Ideologie ist, gegen die Grünen und gegen die Humaniorawissenschaftler zu sein, damit basta. Darum will es ihnen auch partout nicht in den Kopf, dass etwa der Sprachwissenschaftler - als Sprachentechnologe und Computerlinguist - in der IT-Gesellschaft schliesslich dazu kommen könnte, die erste Geige zu spielen.

Die Kernkraftbefürworter sehen sich selbst gerne als Rationalisten, wobei die Gegner natürlich als emotionalisierte Hysteriker auftreten. Leider ist der Zugriff auf solche rhetorische Tricks nur eine allzu deutliche Indikation, dass ihnen sachliche Argumente abgehen. Ich möchte ihnen nur zu gern glauben, aber ich kann nie vergessen, was ich im Handbuch der Kernenergie von Hans Michaelis nachgelesen habe, einem durchaus seriösen zweibändigen Werk zum physikalischen und technischen Hintergrund der Kernenergienutzung. Als erstes Argument dafür sah und erwähnte er den technischen Appeal der Kernenergie - es verdient Aufmerksamkeit, dass er das englische Fremdwort Appeal, wie in Sex-Appeal, da verwendete. Übersetzt heisst es, "ich und meine Kumpels, wir finden das Atom so furchtbar sexy, dass wir es nicht entbehren können". Ich bin Michaelis für seine Aufrichtigkeit dankbar: er gibt wenigstens offen zu, dass er vor allem aus Gefühl - aus Liebe zur Technik und Wissenschaft - Atomfreund ist und dass er für diese Liebe nur nachträglich sachliche Argumente erfunden und zusammengebastelt hat. (Bitte schön, mein lieber Freund und Kupferstecher, aber müsst ihr eure sexuellen Fantasien ausgerechnet auf Kosten der Steuerzahler und der Umwelt ausleben?) Auch andere Atomfreunde sollten mit den nie enden wollenden Beteuerungen ihres Rationalismus aufhören und offen zugestehen, dass ihre Überzeugungen nicht weniger emotional sind als die der Kernkraftgegner. Aber es ist ein uralter Trick, etwas Politisches ausser Politik zu stellen und zu einer rein technokratischen, praktischen Frage umzugestalten; sollt euch doch was Neues ausdenken.

Heute werden weniger als zehn Prozent (in der Tat, etwa sechseinhalb Prozent) vom gesamten Energiebedarf der Welt mit Kernkraft bestritten. Es ist natürlich weit mehr als der Beitrag der regenerativen Energiequellen, aber gleichzeitig ist es ziemlich wenig - so wenig, dass Kernkraft kaum als so eine Rettung vor Treibhauseffekt betrachtet werden kann, wie es sich die Atomfreunde gern einbilden. Nee, Jungs, ich bin da gar nicht überzeugt. Wachstum muss sein, ja; aber um zu garantieren, dass das Wachstum ökologisch tragbar sei, muss es mehr und mehr aus immateriellen Produkten (Software, Dienstleistungen, Inhaltproduktion usw.) bestehen; und dass das immaterielle Wachstum auch mehr Energienutzung voraussetzt, ist keineswegs selbstverständlich. Schon das Wirtschaftsleben an sich findet grösstenteils im Reich des Imaginären und Virtuellen statt - selbst das Geld gilt nur solange, wie es Vertrauen besitzt: Kredit ist primär, Banknoten sekundär, eine übertragbare Form von Kredit. Die ökologische Wende, von der die grünen Schwärmer träumen, geschieht nicht, indem durch Revolution eine Utopie auf der Welt eingeführt wird, sondern dadurch, dass das Wachstum - der Schwerpunkt der Wirtschaft überhaupt - in die Sektoren der immateriellen Produktion verlagert wird.

(Als ich die erste Skizze des obigen Eintrags hier veröffentlichte, erntete ich - wie erwartet - unverzüglich einen tränenerstickten Erguss bei einem KKW-Gläubigen, der kein einziges sachliches Argument enthielt - er versuchte nur, mich im altbewährten Stil seiner Gesinnungsgenossen als Emotionskolporteur zu brandmarken: ich dächte so verkehrt, meinte er, dass er sich nicht darauf einliess, mir zu widersprechen. Ja, eben, wenn man mit seinem Latein am Ende ist, argumentiert man nicht: diffamieren geht leichter. Der arme Schlucker hat mich natürlich aufgefordert, statt Deutsch die "unbestechliche Sprache der Mathematik" - die typische, rührend naive Formulierung eines scheinbar "Unpolitischen": die Sprache der Mathematik ist selbstverständlich ebenso bestechlich wie jede andere Sprache, denn jeder zieht schliesslich seine eigenen Statistiken und seine eigenen Erfassungskriterien denen des politischen Widersachers vor - zu verwenden und jedes bewertende Adjektiv wegzulassen. Wem zur Sache nichts einfällt, macht aus der Sprache die Hauptsache.)

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